d15 – Atis Rezistans | St. Kunigundis
Der Ort nimmt mich gefangen und entlässt mich danach irritiert und ratlos, aber nichtsdestotrotz fasziniert, gebannt. Sakrale Räume üben auf mich seit jeher, auch als Nichtgläubige, Agnostikerin, eine starke Faszination aus. Das muss daran liegen, dass diese Räume auf etwas verweisen, das jenseits der alltäglichen Existenz- und Verwertungszusammenhänge liegt. Vielleicht stehen sie auch für einen Verlust und die Suche nach der Bedeutung dieses Verlustes. Im Zusammenhang mit der Geschichte des Christentums, in dem ich groß geworden bin, ist das für mich eine äußerst ambivalente Angelegenheit. Denn diese Räume stehen ja auch für einen institutionellen Machtanspruch, der über viele Jahrhunderte viel Leid gebracht hat, für uns, die wir in dieser Kultur groß geworden sind, und für andere. Dennoch…
Die Wandmalereien in St. Kunigundis sind zum Teil seltsam abgeklebt mit farbigen gelben und grünen Bändern – ist dies nun eine künstlerische Intervention oder hat das pragmatischere Ursachen (Restaurierung zum Beispiel)? Wie auch immer – sie verleihen den christlichen Gemälden in diesem Raum etwas Konzepthaftes. Als nähme sich die ursprüngliche Ikonographie zurück, um anderen Setzungen Raum zu geben.
Auf den ersten Blick wirken viele Skulpturen der haitianischen Atis Rezistans wie heftige Memento Moris auf mich. Oder gar wie Karikaturen, ironische Brechungen christlicher Bildtraditionen. Ganz schön gruselig zum Teil, wie die Vyej Mari (Jungfrau Maria) oder auch die Notre Dame de Sept Doleurs von Jean Claude Saintilus. Aber es ist besonders Saintilus‘ Skulptur „Masisi“, die einen seltsamen bannenden Zauber auf mich ausübt, ein Tabu – sie zieht mich an, ich kann mich ihr aber nur vorsichtig nähern, und fotografieren kann ich sie nicht. Noch Tage später frage ich mich, was dieses Tabu errichtet hat: War es die Lage: die Aufbahrung? Die zentrale Positionierung? Waren es die weißen Tüllstoffe, in unserem Kulturkreis Unschuld und Reinheit symbolisierend? Oder war es mehr noch die Reduzierung der Elemente – ein Totenschädel und Stoffe, die die Umhüllung eines aufgebahrten toten menschlichen Körpers andeuten… Totenschädel tauchen öfters auf, aber bei allen anderen Figuren kommen etliche Merkmale hinzu, die noch auf anderes verweisen. Nirgendwo vielleicht tritt in diesem Raum der Tod, die Erinnerung an die eigene Sterblichkeit reiner und stärker hervor.
Die Notre Dame de Sept Doleurs: auch eine Figur, die mich magisch anzieht. Ohne dass ich zu diesem Zeitpunkt weiß, welchen Titel sie trägt, um was es hier geht, in welchem Kontext diese Figur steht… Welche sieben Schmerzen sind das denn, von denen der Titel spricht? Trotz ziemlich katholischer Sozialisation: Ich kenne die sieben Schmerzen Marias nicht (wenngleich mir die „schmerzensreiche“ Mutter Gottes ein Begriff ist, nicht nur wegen Gretchens flehenden Worten an sie in Goethes „Faust“). In einem „Ökumenischen Heiligenlexikon“ im Netz finde ich Aufklärung (https://www.heiligenlexikon.de/BiographienM/Maria-Dolores.html ). Und weitere Fragen.
Auf sieben Schmerzen komme ich nicht in Saintilus‘ Notre Dame, aber auf existentielle Bedrohungen schon. Was ich erkenne: Den Schmerz der Vergänglichkeit, den Schmerz der Versehrtheit oder Verletzlichkeit (dem Kind fehlt ein Arm). Den Schmerz der Verfolgung und Flucht (Die aufgeschlagene Bibel, Matthäus 2,7ff). Die Uhr, die aufgeschlagene Bibel, Relikte einer alten Symbolik. Der Tod (und seine Überwindung) als zentrales Thema. Das Kind, das für den Neuanfang steht – hier aber auch in der Amputation des fehlenden Arms symbolisiert, dass wir von Anfang an in unserer stofflichen Existenz verletzlich und der Vergänglichkeit ausgeliefert sind… Ja – das sind meine Versuche, in diesen befremdlichen Bildbezügen zu lesen, sie zu interpretieren, eine Bedeutung zu erkennen.
Wenn mit Jesus, wird ja die schmerzensreiche Mutter in unserem christlichen Kontext traditionell mit dem Leichnam Jesu auf ihrem Schoß dargestellt, nicht mit dem Kind Jesus. Also das bemerkenswert Andere, das beide Marienskulpturen Saintilus‘ im Unterschied zu unseren traditionellen Maria-Jesus-Darstellungen auszeichnet, ist wohl: Der Neuanfang (das Kind, die Geburt) wird direkt zusammengebracht mit dem Ende (dem Tod, der Zeit, der Vergänglichkeit, dem Totenschädel, der Uhr). Ist das nun auch etwas Anderes, Neues innerhalb des haitianischen Glaubenshorizontes? Und was hat Voodoo mit dem Ganzen zu tun? „Their works reference their shared African cultural heritage, Vodou practice and a dystopian sci-fi view of the future“, heißt es in einem Text zur Ausstellung (https://ghettobiennale.org/files/SINGLEARGBCATALOGUE.pdf).
Fatalerweise erinnert mich dieser „Kurzschluss“ von Geburt und Tod auch an Versuche der Abwertung des Weiblichen als biologisch determiniert innerhalb unserer westlichen Geschichte, während das Männliche in ebendieser Geschichte mit Geist und Bewusstsein (als Gegenpol und Überwindung) zusammengebracht wurde. Aber ist das auf den Kontext hier übertragbar? Es gibt ja keine Bedeutungen an sich, Bedeutungen werden in der Abgrenzung zu anderen Bedeutungen konstituiert, sie entstehen in einem Geflecht der jeweiligen symbolischen Ordnungen, das außerdem nicht statisch ist, sondern prozesshaft in Bewegung…
Die männlichen Toten-Skulpturen der Atis Rezistans wären so ein kontextueller Bestandteil, der möglicherweise Licht auf die Marienfiguren werfen könnte. Nun suche ich für die beiden Figuren, die hier für mich zentral sind, den „Chef seksyon“ und den „Gede milite“ (beide von Eugène) in meinem Kopf vergeblich nach Parallelen und Bezügen im christlichen Zusammenhang. Hinsichtlich deren geradezu beängstigender phallischer Ausstattung fallen mir noch am ehesten der vorchristliche, antike Pan, Satyr oder Dionysos ein. Das sind ja nun eher Figuren mit Merkmalen, die in christlichen Zusammenhängen im wahrsten Sinne des Wortes verteufelt wurden. (Pans Attribute der Bockfüße zum Beispiel fanden bekannterweise Eingang in die mittelalterlichen Teufelsdarstellungen.) Mit „Geist“ oder „Bewusstsein“ scheinen diese männlichen Skulpturen nichts zu tun zu haben. Eher mit einer martialischen Männlichkeit (bei „Gede milite“) oder aber auch einer, die ironisiert wird, nicht ganz ernst genommen, oder die sich selbst nicht ganz ernst nimmt.
Wer sind denn diese „Ghede“, die in der Voodhoo-Religion eine herausragende Rolle spielen und hier offensichtlich Pate gestanden haben?
https://de.wikipedia.org/wiki/Ghede
Die Arbeiten von Ais Rezistans entspringen, so lese ich bei Philipp Lichterbeck, „einer tiefen Spiritualität.“ Was aber wohl nicht bedeutet, dass sie in Haiti einer künstlerischen sakralen Tradition entsprächen. „Sie waren die Antithese zu den typischen haitianischen Bildern vom idyllisierten Landleben“, schreibt Lichterbeck: „explosiv, sakral-genital, prophetisch“. André Eugène, einer der Gründer der Gruppe, erinnerte sich: „Die Nachbarn hatten Angst […] Wir benutzten auch menschliche Schädel, die wir in trockenen Flussbetten fanden.“
(http://www.philipp-lichterbeck.com/reportage/neues-leben-aus-alten-knochen, abgerufen am 31.07.22.)
Nachtrag: Ich hatte angefangen, über den haitianischen Voodoo-Kult zu recherchieren und dazu unter anderem auch ein Buch gelesen von Andreas Gößling, Voodoo. Leider nichts mehr exzerpiert. Die afrikanischen Sklaven brachten ihren Vodunkult aus Westafrika mit nach Haiti und retteten sich aus der Zwangschristianisierung durch ihre Unterdrücker, indem sie die Heiligenfiguren des Christentums mit den Geistwesen ihrer Religion identifizierten – dabei deren Attribute auf das christliche Arsenal projizierten. So kam es zu einer Überlagerung westafrikanischer und christlicher Glaubensinhalte, aus der der haitianische Voodoo in seiner besonderen Ausprägung entstand. Die aktuellen Debatten über „kulturelle Aneignung“ im Kopf, könnte man da vielleicht sogar von so etwas wie einer „kulturellen Aneignung von unten“ reden, aber in den Anfängen war das ein Akt des Überlebens, eine Art getarnter Widerstand, eine verborgene symbolische Besetzung innerhalb des öffentlich gesetzten spirituellen Raums. Die Sklaven integrierten so den Katholizismus in ihr eigenes Weltbild und kreierten damit etwas Neues.
Spannend finde ich, dass sich hier sehr deutlich zeigt, wie wichtig es ist, „Kontexte“ im Blick zu haben: wenn ein- und dieselbe (christliche) Figur – je nach Position des Betrachters, der Betrachterin – völlig unterschiedliche Vorstellungen und Bezüge anspricht und ganz verschiedene Bedeutungen evozieren kann, dann reden wir, wenn wir über diese Figur reden, nicht über dasselbe…
2003 wurde Voodoo auf Haiti offiziell als Religion anerkannt. Für mich bleibt er auch nach meinen Versuchen der Annäherung noch ganz schön fremd – Ausdruck einer ganz anderen Weltsicht und eines anderen Weltbezugs, der rätselhaft und fordernd ist.
- Jean Claude Saintilus, Notre Dame de Sept Doleurs
- Jean Claude Saintilus, Notre Dame de Sept Doleurs
- Jean Claude Saintilus, Jean Claude Saintilus, Notre Dame de Sept Doleurs
- Jean Claude Saintilus, Vyej Mari (Virgin Mary)
- Jean Claude Saintilus, Vyej Mari (Virgin Mary)
- André Eugène, Danballa
- André Eugène, Danballa, Detail
- Katelyne Alexis, Kibodist (Pianist)
- Katelyne Alexis, Ayiti malad (Haiti is Sick)
- Katelyne Alexis, Sen Jak Maje (St Jacques the Major)
- André Eugène, Gede milite (Military Gede)
- André Eugène, Madame Letan
- Evel Romain, Bosou (The Bull)
- Evel Romain, Danballa
- Evel Romain, Kafou (Crossroads), Detail
- André Eugène, Gratis Santi
- André Eugène, Gratis Santi
- André Eugène, Gratis Santi
- André Eugène, Jij bosou (Judge Bosou)
- André Eugène, Jij bosou (Judge Bosou). Rechts die Figur Masisi von Jean Claude Saintilus
- Andre Eugene, Evel Romain & Wilerme Tegenis, Bawon Samedi
- Andre Eugene, Evel Romain & Wilerme Tegenis, Bawon Samedi
- Andre Eugene, Evel Romain & Wilerme Tegenis, Bawon Samedi
- Andre Eugene, Evel Romain & Wilerme Tegenis, Bawon Samedi




























