Pourtbou 2009
10.03.08
Ich bin im Moment in Frankreich und im Jahr 1940/41 unterwegs, mit einer Reiseführerin namens Lisa Fittko. Ziel ist Portbou und die letzte Etappe davor, die Passage über die Pyrenäen und über die französisch-spanische Grenze, die er mit ihr als seiner Führerin ging: Walter Benjamin. Wie aber bei jeder Reise, so ist auch hier das Ziel nicht das einzige Interessante, sondern die Begegnungen, die man auf Reisen macht, und dazu gehört meine Reiseführerin selbst: eine höchst eigensinnige Persönlichkeit, mutig, kenntnisreich. Das Bild auf dem Buchumschlag* zeigt eine forsche junge Frau, selbstbewusst lächelnd. 1909 geboren, war sie im Mai 1940 dreißigjährig, eine junge Emigrantin in Paris, aktiv im Nazi-Widerstand, als auch für sie die Falle zuschlug: Sie wurde als „feindliche Ausländerin“ in ein Konzentrationslager gebracht, nach Gurs, in ein Auffanglager für spanische Bürgerflüchtlinge. Ihr Mann Hans war schon im September 1939, bei Ausbruch des Krieges, interniert worden. Wie viele Länder in Krisen- und Kriegszeiten, machten auch die Franzosen keinen Unterschied: Alle deutschen Staatsangehörigen galten als feindliche Ausländer, egal, ob politisch Verfolgte, Juden oder Nazis. Wie bitter muss das für all diejenigen gewesen sein, die vor den Nazis geflüchtet waren, die sogar gekämpft hatten gegen sie und sich nun wiederfanden in einer Zwangsgemeinschaft mit ihren Feinden, gefangengenommen und unter Generalverdacht gestellt….
Update 2018: Ich stelle mir vor, wie es jetzt beispielsweise für syrische Flüchtlinge sein muss, die vor dem IS-Terror flohen und nun unter Generalverdacht stehen, ein Terrorist, ein IS-Anhänger zu sein.
23.03.08
Lisa Fittko gelang mit einem Teil der Lagerinsassinnen die Flucht, bevor die deutschen Truppen Gurs erreichten – sie konnte die allgemeine Auflösung ausnutzen, die angesichts des Anmarschs der Deutschen im Lager, innerhalb der Lagerleitung, entstanden war. Sie und ihr Mann kamen wieder zusammen.
Lisa und ihr Mann versuchten Anfang August 1940 erfolglos, das Land zu verlassen. Mitte September fuhr Lisa Fittko nach Port-Vendres, um den Landweg über die Grenze nach Spanien zu erkunden. Am 25. September erschien Walter Benjamin bei Lisa. Hans hatte ihn geschickt. Benjamin gehörte zu den ersten Flüchtlingen, die Lisa Fittko über die französisch-spanische Grenze nach Portbou geführt hat. Er hat sein Ziel nicht erreicht.
Benjamin wurde von den Spaniern nicht durchgelassen aufgrund einer kürzlich erlassenen Vorschrift, nach der niemand ohne französisches Ausreisevisum nach Spanien einreisen durfte. Die Verordnung wurde wenig später wieder aufgehoben. Benjamin aber nahm sich in Portbou in der Nacht der Ankunft das Leben. Ein Koffer mit einem Manuskript, den er auf seiner Flucht mit sich führte, ist bis heute verschwunden…
Im Herbst 41 verließen die Fittkos Frankreich und flüchteten über Lissabon nach Havanna. Sechs Jahre später, im Dezember 47, wanderten sie nach Amerika ein.
15.08.09
Wir sind jetzt hier. Über der Bucht von Portbou.
Halbrechts öffnet sich der Raum zu einem weiten mittelmeerischen Horizont. Rechts der Friedhof, dessen weiße Mauern in der Sonne leuchten. Links der Eingang zu der begehbaren Skulptur von David Karavan. Passagen.
Gestern sind wir vom Queroig heruntergelaufen auf dem gleichen Weg wie damals die Flüchtlinge, die von Banyles herüberkamen. Von oben, mit dem weiten freien Blick über das Land, hinunter ins Tal, in einen Trichter, der alle Wege bündelt wie das Wasser, das von den Bergen kommt und schließlich in der Bucht von Portbou ins Meer fließt. Unausweichlich. Es gibt kein Zurück.
Oben am Memorial führen die Treppen hinunter ins Bodenlose. Unten schlagen die Wellen Schaumkronen um kleine Felsen und Steinspitzen. Das Wasser ist blaugrün. Die Sonne erleuchtet die inneren Wände der Rampe. Rotbraun von Rost. Jemand hat links ein Herz eingeritzt und zwei Namen. Beschwörung für die Zukunft.
Unten die Glasplatte, die uns am Weitergehen hindert und vor dem Fall bewahrt. Ein Zitat: „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.“ Das Glas ist zersplittert und zeigt Sprünge, jemand hat Steine dagegen geworfen. Die Steine liegen noch auf den Stufen.
Es ist das Memorial für Walter Benjamin, aber Karavan hat es mit diesem Zitat gleichzeitig all jenen Namenlosen übereignet, die wie er auf der Flucht waren, exiliert, heimatlos, ihrer Möglichkeiten und ihrer Güter beraubt, mit ungewisser Zukunft. Das Meer – das Ende oder ein Anfang, Passage oder Auflösung im Unendlichen? Kein Zurück. Oben am Ausgang der Himmel, heute ein blaues Versprechen, während wir die Stufen wieder emporsteigen. Zwischen Himmel und Meer. Eingefasst. Gefangen. Seltsam aufgehoben. Entrückt. Kein Land.
Die Flüchtlinge, die es geschafft hatten, bis hierher zu kommen nach Portbou und hier nach Spanien einzureisen, fuhren mit dem Zug weiter, durch Spanien nach Lissabon, und von dort über das Meer nach Amerika oder Kuba oder für welches Land auch sie Visa bekommen hatten…
Auf dem Friedhof ist es still, friedlich, Mittagssonnenhitze, bunte Plastik- und Stoffblumen vor den Inschriften der Kassettengräber. Benjamins Grabdenkmal ein schlichter Stein, ein Zitat, auf dem Stein mehrere Steinhäufchen. Ein paar Plastikblumen auch hier, eine Farbfotografie in einem silberfarbenen Rahmen zeigt eine futuristische Figur, Kopf im Profil, kraftvoll vorstoßend nach rechts, Synonym für die Zukunft. Spaniens Kämpfer für Demokratie.

Es ist beeindruckend. Es tut fast weh, sagt Wolfgang. Über das Memorial.
*Lisa Fittko, Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41
Fotos: Wolfgang



